In diesen Tagen haben zwei zentrale Behörden des Vatikans – die Glaubenskongregration und das Entwicklungsministerium – ein offizielles Schreiben veröffentlicht, in dem sie sehr kritisch auf die heutige, globalisierte Wirtschaft blicken. Das Schreiben hat natürlich einen lateinischen Titel: „Oeconomicae et pecuniariae quaestiones“, es geht also um ökonomische und finanzwirtschaftliche Fragen.

Papst Franziskus hat in den letzten Jahren immer wieder sehr scharf auf die Entgleisungen der modernen Wirtschaft hingewiesen und den Kapitalismus angeprangert. Unternehmensgewinne würden eine Sünde darstellen, die Herrschaft der Finanzwirtschaft sei verantwortlich für die Verarmung weiter Teile der Weltbevölkerung: „Die Wirtschaft tötet“, so der Papst in seinem Lehrschreiben „Evangelii gaudium“.

Ganz so pessimistisch und scharf liest sich das aktuelle Schreiben seiner Behörden nicht, trotzdem muss man diese Äußerungen des Papstes natürlich im Hinterkopf behalten. Sie bilden den Rahmen des aktuellen Schreibens.

Das Grundanliegen dieses Schreibens ist schnell benannt: es fordert eine stärkere ethische Komponente in der Wirtschaft, namentlich in der Finanzwirtschaft.

Die Chance sei vertan worden, so dieses Schreiben, die jüngste Finanzkrise für eine Neubesinnung auf ethische Werte zu nutzen. Die Wirtschaft müsse auf ethische Prinzipien hin reguliert werden, um einen „oberflächlichen, kurzsichtigen Egoismus“ zu verhindern, der unmenschlich sei und auf Dauer auch keinen Wohlstand schaffen könne.

Bereits an diesem Gedankengang wird eine Problematik dieses Schreibens aufgezeigt. Die Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung ethischer Prinzipien ist absolut berechtigt – das Stichwort Diesel und Autowirtschaft dürfte als Beleg genügen.

Nur die Begründung ist stellenweise zumindest fragwürdig.


Der Markt

Das vatikanische Schreiben ist von einem inhaltlichen Fundament getragen, das man sich genau anschauen muss: der Markt ist eine Gefahr. Dabei geht dieses Schreiben nicht so weit wie Papst Franziskus in einigen Äußerungen, dem Markt seine Existenzberechtigung abzusprechen, aber der Markt wird vor allem als eine Gefahr gesehen, als Brutstätte des Egoismus. Je mehr Markt, desto mehr Egoismus. Je mehr Egoismus, desto schlechter für das Gemeinwohl.

Egoismus als Folge des Marktes. Ist das so? Gibt es also in Ländern ohne freien Markt keinen oder weniger Egoismus? Haben die gesellschaftlichen Alternativen zum freien Markt nicht noch viel übleren Egoismus hervorgebracht?

Natürlich kann innerhalb des Marktes Egoismus entarten und Schaden anrichten. Aber basiert der Markt nicht auf dem Grundgedanken des Austausches und des Miteinanders? Liegt nicht gerade in diesem Austausch das Fundament wachsenden Wohlstands?

Im vatikanischen Schreiben heißt es:

„Obwohl der wirtschaftliche Wohlstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überall auf der Welt in einem nie gekannten Ausmaß und Tempo zugenommen hat, ist zu bedenken, dass im selben Zeitraum die Ungleichheiten zwischen den Ländern und innerhalb der Länder größer geworden sind. Auch ist die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, nach wie vor ungeheuer hoch.“

Ja, der Wohlstand ist in den letzten Jahrzehnten weltweit gestiegen. Und auch ja, es gibt eine Ungleichheit zwischen den einzelnen Ländern und innerhalb einzelner Länder. Und auch ja, es gibt eine große Anzahl armer Menschen.

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Aber: dass der Wohlstand in den letzten Jahrzehnten gestiegen ist, ist kein Zufall, sondern hat einen Grund: die Globalisisierung. Das bezweifeln nicht mal ihre Kritiker. Nun kommt die spannende Frage: hat dieses Wachstum für größere Ungleichheit gesorgt? Für größere Armut?

Die Zahl der in Armut lebenden Menschen ist nachweislich in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen. Laut einer aktuellen Studie der Weltbank sind erstmals in der Geschichte der Menschheit weniger als 10% der Menschheit von extremer Armut betroffen. Zu Beginn der Industrialisierung vor 200 Jahren – so der frühere Weltbank-Chefökonom Francois Bourguignon – waren es 94% der Menschheit, die in extremer Armut lebten. Dieser Prozess hat sich in den letzten Jahrzehnten durch die Globalisierung noch einmal beschleunigt. Dieser Rückgang ist in den letzten Jahrzehnten wesentlich durch die Länder ausgelöst, die ihre Märkte neu geöffnet haben, China und Asien an erster Stelle. Die Globalisierung erzeugt keine Armut, sie bekämpft sie – auch wenn das nicht in jede Ideologie passt.

Es stimmt, dass es Ungleichheit zwischen den Ländern und auch innerhalb der Länder gibt. Aber schauen wir genau hin: es ist in der Tat so, dass bei einem Wachstum der Wirtschaft größere Vermögen schneller wachsen als kleinere Vermögen. Dies ist nicht zu vermeiden, da größere Vermögen mehr investiert sind. Das Wichtige ist aber: auch kleinere Vermögen wachsen.

Das heißt: wenn immer wieder von einer Schere gesprochen wird zwischen Reich und Arm, dann heißt das nicht, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer werden, sondern nur, dass das Vermögen der Reichen schneller wächst als das der Armen. Das wichtige Faktum ist aber, dass auch das Vermögen der Armen wächst und Armut bekämpft wird.

 

Markt und Handel sind immer mit einem gewissen Vorurteil behaftet, der sich auch im vatikanischen Schreiben widerspiegelt: im Handel entsteht nichts Neues, Handel heißt: einer verdient, der andere zahlt drauf. Grundlage hierfür ist der Glaube, dass es im Handel um den Tausch gleichwertiger Sachen geht. Dann ist es allerdings so, dass eine Seite gewinnt und die andere verliert, weil die Verliererseite den objektiven Wert der Sache nicht eingeschätzt hat.

Es ist aber so, dass es weder einen objektiven Wert einer Sache gibt, noch werden im Handel gleichwertige Sachen ausgetauscht. Handel findet nicht statt, weil beide Seiten einen gleichen Wert austauschen (warum sollten sie dann überhaupt tauschen?), sondern weil sie eine Sache unterschiedlich bewerten: das, was man hat, scheint weniger wert als das, was man haben will. Deshalb wird getauscht. Und deshalb gewinnen beide Seiten im Handel.

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Wenn ich einen Apfel für 30 Cent sehe, dann kaufe ich ihn, wenn mir dieser Apfel mehr wert ist als meine 30 Cent. Denn ich habe Hunger und will diesen Apfel haben. Von 30 Cent werde ich nicht satt, durch den Apfel habe ich etwas, was mehr wert ist als 30 Cent. Der Bauer bietet mir diesen Apfel, weil dieser Apfel für ihn weniger wert ist als 30 Cent. Er hat viele Äpfel und will Geld verdienen. Deshalb verkauft er den Apfel. So haben beide Seiten durch den Handel verdient. Weil beide den Wert des Apfels nicht gleich, sondern unterschiedlich einschätzen.

Das vatikanische Schreiben kritisiert den Markt, indem es davon ausgeht, dass der Austausch und der Handel immer Verlierer hervorbringen. Das ist nicht der Fall.



Es wäre eine sehr spannende Aufgabe für die Kirche, aber auch für andere soziale Institutionen, den Markt nicht als Feind der Armen zu sehen oder als Produzenten von Armut, sondern positive Schritte zu beschreiben, wie der Markt die Armut noch besser bekämpfen kann bzw. wie die soziale Kraft des Austauschs und des Handels den Armen zugute kommen kann. Der Markt verfügt über positive Kräfte. Wie jede Kraft können auch die Kräfte des Marktes ins Negative gewendet werden. Können, nicht müssen. Und darüber sollte man nachdenken. Es ist einfach zu simpel zu sagen, der Markt ist schlecht, also müssen wir regulieren, dann wird alles gut.

 

Ethik und Menschenbild

Das vatikanische Schreiben erinnert daran, dass jede Handlung im wirtschaftlichen Leben eine ethische und eine humanitäre Relevanz besitzt und damit hat dieses Schreiben absolut recht. Nicht der Markt selbst kann unethisch werden, aber sehr wohl die Menschen, die sich in diesem Markt bewegen und in diesem Markt agieren.

Die scharfe Kritik am Markt – angefangen bei Leuten wie Marx und Engels bis hin zu heutigen Kritikern – ist auch deshalb berechtigt, weil Egoismus und grenzenlose Gier das Leben vieler Menschen schlicht und einfach kaputt machen.

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So sehr ein maßvoller Egoismus und ein gesunder Ehrgeiz die Triebfeder für wachsenden Wohlstand sind, so sehr können diese produktiven Grundkräfte sich in einem Ausmaß verselbständigen, das nur noch krank ist und krank macht. Darauf weist das vatikanische Schreiben völlig zu Recht hin, denn da hat es gerade in der Finanzwirtschaft der letzten Jahrzehnte üble Auswüchse gegeben.

Hier macht das vatikanische Schreiben einen sehr spannenden Vorschlag, nämlich den Fortschritt eines wirtschaftlichen Systems nicht nur nach dem Profit zu berechnen:

„Deswegen kann kein wirtschaftliches System als Fortschritt verstanden werden, wenn es allein von den Maßstäben der Quantität und der Effizienz beim Schaffen von Profit ausgeht. Vielmehr muss es auch nach der Lebensqualität bemessen werden, die es hervorbringt, und nach dem sozialen Wohlstand, den es verbreitet: einem Wohlstand, der nicht auf bloß materielle Aspekte reduziert werden darf.“

Der Fortschritt einer Gesellschaft darf nicht nur nach der Steigerung des BIP berechnet werden, sondern auch nach Faktoren wie Lebensqualität, sozialem Wohlstand, Bildung usw. Diese Faktoren sind statistisch schwer zu erfassen, aber sie sind unerlässlich, wenn es darum geht, eine Gesellschaft zu verstehen bzw. den Menschen selbst. Hier entfaltet das vatikanische Schreiben nun seine ganze Stärke:

„In diesem Sinn zeigt sich in unserer Zeit eine verkürzte Sicht des Menschen: nämlich jene des individualistisch verstandenen Menschen, der in erster Linie Konsument ist und dessen Gewinn vor allem in der Optimierung seiner finanziellen Einkünfte bestünde. Die menschliche Person besitzt aber eine ureigene relationale Natur und eine Rationalität, die immer nach einem Gewinn und einem Wohlergehen streben, welche umfassend sind und nicht auf die Logik des Konsums oder die wirtschaftlichen Aspekte des Lebens reduziert werden können.“

Das Gewinnstreben ist in jedem Menschen angelegt. Es ist aber nicht nur materiell, sondern auch auf andere Faktoren bezogen, die den Menschen zu Menschen machen. Zur Gewinnung dieser Faktoren braucht es Ethik. Jedes Handeln des Menschen verfügt über eine ethische Relevanz und wenn der Mensch nicht diesen ethischen Prinzipien entsprechend handelt, verliert sich sein Leben in materiellen Zwängen, an denen er kaputt geht.


Fazit

Das vatikanische Schreiben bedient durchaus marktkritische Töne, die sachlich nicht immer angemessen sind. Es beschreibt aber sehr klar eine Fehlentwicklung, die nicht Folge des Marktes ist, sich aber im Markt entwickeln kann und sich des Marktes bedienen kann.

Hier setzt dieses Schreiben sehr wichtige Akzente und stellt nicht nur der Wirtschaft, sondern der gesamten Gesellschaft die berechtigte Frage, ob die bloße Gier nach materiellen Dingen die Basis persönlichen Glücks oder einer positiven gesellschaftlichen Entwicklung sein kann. Eine Gesellschaft darf sich genausowenig über die Steigerung des BIP definieren wie ein Unternehmen über die bloßen Quartalszahlen.

Papst Franziskus hat in seinen bisherigen sehr marktkritischen Äußerung das Wirtschaftssystem als Ganzes im Auge. Das aktuelle Schreiben blickt eher auf die Mikroebene: den Menschen. Damit setzt dieses Schreiben an anderen, wichtigen Akzent. Denn auch wenn der Markt natürlich Einfluss hat auf die Handlungen des Menschen, der sich im Markt und in einer bestimmten Gesellschaftsform bewegt, entbindet das nicht den Menschen davon, dass er es ist, der handelt, und er es ist, der für seine Handlungen verantwortlich ist, nicht der Markt.