Man kennt es: eine Person des öffentlichen Lebens hat irgendetwas gemacht, das seinem Amt oder seiner Aufgabe moralisch nicht opportun ist. Die Person sieht ein, einen dicken Fehler gemacht zu haben, sie kündigt öffentlich an, die „Verantwortung“ für ihre Fehler zu übernehmen und tritt von ihrem Amt zurück.

Hinlänglich bekannt und hinlänglich oft passiert.

Clemens Tönnies, Quelle: www.wikipedia.org

In den letzten Wochen befindet sich der Fleischproduzent Clemens Tönnies in den Schlagzeilen mit seinen höchst umstrittenen Geschäftspraktiken, die anscheinend auch nicht ganz unschuldig an der Entstehung eines Corona-Hotspots sind. Tönnies gibt sich mittlerweile einsichtig, sagt, er „übernimmt die volle Verantwortung“ – und bleibt auf seinem Posten (zumindest auf dem der Fleischerei). Er argumentiert, dass diese Verantwortung für ihn bedeuten würde, sich nicht aus dem Staub zu machen, sondern das Unternehmen aus der Krise zu führen.

Was ist eigentlich Verantwortung? Was bedeutet es, wenn jemand „Verantwortung“ für seine Fehler übernimmt?


Herkunft

Das Wort „Verantwortung“ hat sich wenig überraschend aus dem Verb „antworten“ gebildet. Logischerweise ist eine Antwort immer eine Reaktion auf eine Frage. „Verantworten“ wurde ursprünglich für die gerichtliche Anfrage benutzt: man verantwortet sich, indem man vor Gericht seinen Standpunkt darlegt.

Verantwortung hat also immer etwas mit einem auswärtigen Anspruch zu tun: des Gesetzes, des Auftraggebers, des Geschäftspartners, der Gesellschaft, von wem auch immer. Diesem Anspruch muss man gerecht werden, man „übernimmt die Verantwortung“ gegenüber einem anderen für eine bestimmte Sache.

Interessanterweise beginnt erst im 19. Jahrhundert eine philosophische Debatte darüber, was genau Verantwortung ist. Der Grund liegt wohl darin, dass bis dahin relativ klar war, wem der Mensch letztlich für seine Taten verantwortlich ist: Gott.

Erst durch die wachsende Säkularisierung der Gesellschaften tauchte die Frage auf, wem gegenüber der Mensch verantwortlich ist bzw. wer außer Gott moralische Instanz sein und Verantwortung einfordern kann. Das Grundgesetz hat diese Frage bewusst offen gelassen und von einer „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ gesprochen.

Freiheit

Wesentlich für die Verantwortung ist die Freiheit. Man kann nur die Verantwortung für etwas übernehmen, für das man sich frei entschieden hat. Deshalb ist ein Straftäter, der seine Tat etwa aufgrund seiner Krankheit oder eines äußeren Zwangs unfrei begangen hat, eingeschränkt oder gar nicht für seine Tat „verantwortlich“ und damit haftbar zu machen.

Bereits Aristoteles hat in der Antike diese Notwendigkeit der persönlichen Freiheit betont, ohne den die Idee der Verantwortung nicht denkbar ist.

Diese Freiheit gilt nicht nur für die Tat, sondern auch für die Folgen der Tat. Wenn jemand z. B. für seine Tat vor Gericht bestraft wird, diese Person diese Strafe aber nicht akzeptiert, übernimmt er auch keine „Verantwortung“. Diese kann er erst übernehmen, wenn er diese Strafe akzeptiert.

 

Konsequenzen einer Handlung

Zur Übernahme einer Verantwortung gehört damit wesentlich, dass ein Scheitern an dieser Verantwortung freiwillige Konsequenzen haben muss. Diese Konsequenz kann darin bestehen, die übertragene Aufgabe, der man nicht gewachsen war, abzugeben. Im Fall einer strafrechtlichen Verurteilung kann die Konsequenz darin bestehen, diese Verurteilung zu akzeptieren.

Wichtig ist jedoch, dass die Übernahme von Verantwortung nach dem Scheitern einer Aufgabe eine Folge hat, die aus eigenem Willen und eigenem Antrieb erfolgt. Die Übernahme von Verantwortung setzt diesen inneren Antrieb voraus, der durch äußere Signale einfacher glaubwürdig gemacht werden kann: etwa in der Aufgabe der Ämter. Ohne eine solche äußere Konsequenz stellt sich immer die Frage nach der Glaubwürdigkeit.


Verantwortung!

Der eigene, freiwillige Antrieb ist entscheidend für die Übernahme von Verantwortung.

Ein Politiker hat versagt, er tritt zurück, er übernimmt eigene Verantwortung. Zur glaubwürdigen Übernahme von Verantwortung gehört, dass sein Rücktritt freiwillig ist.

Wenn er dann wenige Monate später in einer ähnlichen Funktion wieder auftaucht, muss er der Öffentlichkeit klar machen, dass er an den Gründen des damaligen Scheiterns gearbeitet hat, da er sonst nicht glaubwürdig ist.

Wenn eine Person wie Clemens Tönnies argumentiert, er übernehme die Verantwortung und setze die Arbeit in seiner Firma aufgrund dieser Verantwortung fort, die er für die Firma übernommen hat, dann stellt sich die Frage, wie glaubwürdig eine solche Übernahme von Verantwortung bzw. eine solche öffentliche Reue ist, wenn sie keinerlei sichtbare Konsequenzen hat.

Quelle: www.wikipedia.org

Für das finanzielle Wohlergehen ist Tönnies in erster Linie weiteren Besitzern des Unternehmens gegenüber verantwortlich, sofern er mehr als diese in der unternehmerischen Leitung steht, sowie seiner Belegschaft, sofern sie von einem wirtschaftlichen Misserfolg betroffen ist.

Nun kommen aber noch zwei weitere Probleme hinzu, die miteinander zusammenhängen: der Umgang mit der Belegschaft und der Ausbrauch einer Corona-Seuche, der wohl ursächlich mit dem Umgang mit der Belegschaft zusammenhängt.

Hieraus ergibt sich eine große Verantwortung gegenüber der Belegschaft und auch gegenüber der Gesellschaft, nicht nur als potentiellem Kunden seiner Produkte, sondern auch als potentiellem Opfer von Corona.

Hat Tönnies hier Verantwortung übernommen?

Sowohl seine öffentlichen Äußerungen als auch die Art seiner Zusammenarbeit mit den Behörden legen dies nicht nahe.

Für eine glaubwürdige Übernahme von Verantwortung müssten nun zwei Dinge passieren:

  • Freiwilligkeit: nicht nur das zugeben, was eh schon bekannt ist, sondern eigenständiges und freiwilliges Interesse an der Aufklärung signalisieren.
  • Konsequenzen: die Konsequenz muss prinzipiell kein Rücktritt sein. Aber es muss deutlich gemacht werden, dass es Konsequenzen gibt: im Umgang mit der Belegschaft, den Behörden usw.

Wenn es um die glaubwürdige Übernahme von Verantwortung geht, steht diese immer im Verhältnis zur Schwere des Vergehens: je schwerer das Vergehen, desto deutlicher muss die Konsequenz sein. Hier kann es Vergehen geben, die außer dem Rücktritt keine glaubwürdige Konsequenz zulassen. Nicht auszuschließen, dass Clemens Tönnies dieses Level erreicht hat, dass er außer durch seinen Rücktritt für sich und für sein Unternehmen keine Glaubwürdigkeit mehr herstellen kann.

 

Reue!

Letztlich geht es bei der Übernahme von Verantwortung darum, für ein vergangenes Vergehen glaubhaft Reue zu zeigen, um sich damit irgendwann die Chance für einen Neuanfang zu sichern.

Hier kommt ein altes christliches Motiv zum Vorschein, das sich durchaus bewährt hat: dem Nächsten ist zwar zu verzeihen, aber diese Verzeihung bzw. diese Barmherzigkeit ist gebunden an die Reue des Sünders. Wenn der Sünder glaubhaft bereut, muss ihm verziehen werden.

Hier wird klar, dass es bei der Übernahme von Verantwortung letztlich um die Glaubwürdigkeit der Reue geht, um das freiwillige Einsehen persönlichen Versagens. Diese Einsicht kann oft erst glaubwürdig werden in den Konsequenzen, die aus dieser Einsicht folgen.

Aus dieser Perspektive sind oft große Fragezeichen zu setzen, wenn mal wieder jemand „Verantwortung übernimmt“.