Der Krieg in der Ukraine hat viele bisherige Denkgewohnheiten auf den Kopf gestellt. Krieg und Frieden, Energieversorgung … viele Selbstverständlichkeiten haben sich als wenig tragfähig erwiesen. Eine weitere Sache fordert ebenfalls zum Umdenken heraus, wird jedoch bislang so gut wie gar nicht thematisiert: das Verhältnis der Deutschen zu Osteuropa.


Bislang scheint es dort nur Russland als ernstzunehmende Nation gegeben haben. Was dazu führte, dass andere (mittel-)osteuropäische Länder wie Polen, Tschechien usw. eigentlich missachtet wurden und als Nationen 2. Klasse galten.

Die polnischen Teilungen (Quelle: wikimedia)

Diese Haltung hat eine lange Geschichte. Man muss dabei nicht nur an den Hitler-Stalin-Pakt denken, der Polen und das Baltikum zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion aufteilte. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts und Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Polen zwischen Russland, Preußen und Österreich aufgeteilt. Die ganze Geschichte Osteuropas ist eine Geschichte von Einflusssphären und Eroberungen großer Staaten wie Russland, Österreich oder dem Osmanischen Reich, die viele Jahrhunderte die Entstehung eigener Nationalstaaten behindert haben.

Es scheint eine historische Gewohnheit zu sein, Osteuropa nicht als Ort eigenständiger und gleichberechtigter Nationen zu sehen, sondern als Einflusssphäre anderer, „wirklicher“ Nationen. Diese Gewohnheit ist noch immer präsent. Schauen wir in die letzten Jahre.

Russland tritt immer aggressiver auf. Die osteuropäischen Staaten – gerade jahrzehntelanger russischer Unterdrückung entkommen – erheben immer wieder warnend ihre Stimme. Die Reaktionen in Deutschland? Es gibt sie nicht. Die Kontakte mit Russland werden immer enger, die Abhängigkeit von Russland ebenfalls.

 

Unübertroffenes Symbol dieser Annäherung ist Nord Stream. Sämtliche osteuropäischen Länder und sämtliche westliche Bündnispartner weisen darauf hin, dass Nord Stream nur ein Ziel haben kann: Deutschland zu beliefern und Geld zu verdienen, und gleichzeitig osteuropäische Länder von der Gaszufuhr abschneiden zu können und so Druck auf sie auszuüben. Einen anderen Zweck konnte die Leitung nie haben, da die anderen Leitungen durch Osteuropa ja völlig ausreichend für die deutsche Gasversorgung waren.

Merkel kommentierte eiskalt, dass es sich bei Nordstream um ein wirtschaftliches, nicht um ein politisches Projekt handeln würde. Wie konnte man so blind sein? Wie konnte man bewusst Osteuropa dem Risiko eines russischen Angriffs aussetzen?



Die entscheidenden Verträge für Nord Stream 2 wurden von Angela Merkel nach der russischen Eroberung der Ostukraine und der Krim unterschrieben. Genauso wie die deutschen Gasspeicher erst danach von Sigmar Gabriel an die Russen verkauft wurden – Osteuropa war entsetzt, der Westen schüttelte den Kopf. Hinweise auf eine Abhängigkeit von Russland wurden lächelnd abgetan.

Vor über einem halben Jahr griff Russland die Ukraine an. Und wieder tauchten in Deutschland Reaktionen auf, dass die Ukraine bereit sein müsste, auf ihre Souveränität zu verzichten, um einen Krieg zu verhindern. Was ist das für ein Bild von der Souveränität eines osteuropäischen Volkes?

Vor wenigen Tagen, nach einer erfolgreichen Offensive der Ukraine, verkündet beispielsweise ein Johannes Varwick, Politikwissenschaftler in Halle-Wittenberg:

„Wir müssen die Ukraine zum Einlenken zwingen.“

Was ist das für eine Aussage angesichts der Massaker an der ukrainischen Bevölkerung? Was ist das für ein Bild von der Souveränität eines osteuropäischen Volkes? Haben die Völker, die zwischen Deutschland und Russland leben, nicht das Recht, selbständig und frei zu sein?

Dies ist jedoch nicht nur ein Problem der hohen Politik. Auch im Alltag nehmen viele Deutsche Menschen aus osteuropäischen Ländern oft nicht wirklich ernst.

Dabei geht es nicht nur um die vielen Polenwitze. Osteuropäische Länder gelten als arm, wenig stabil, korrupt und nicht lebensfähig. Menschen aus diesen Ländern als Schnorrer deutscher oder europäischer Geldtöpfe. Während man bei einem Russen unmittelbar Dostojewski und Tolstoi vor Augen hat, schaut man bei einem Rumänen erstmal nach, ob das eigene Fahrrad noch da ist. Das mag jetzt etwas überspitzt sein, aber leider ist es oft Realität. Versuchen Sie sonst mal als Rumäne in Deutschland eine Wohnung zu finden.



Es ist jahrzehntelange Praxis der hohen Politik genauso wie gelebte Haltung in weiten Teilen der Bevölkerung: im Osten zählt nur Russland, die anderen Nationen sind keine wirklichen Nationen, sondern halbe Russen, die eigentlich auch wieder ganze Russen werden können. Selbst Helmut Schmidt, nicht verdächtig, sich schnell und populistisch zu äußern, meinte 2014, nach dem Angriff auf die Krim (!), es wäre ein großer Irrtum des Westens, zu glauben, “dass es ein Volk der Ukrainer gäbe, eine nationale Identität”.

Hier kann der Ukraine-Krieg eine wichtige Hilfe sein, diese Haltung zu überdenken. Wir erleben den Kampf eines Volkes, dem seine Souveränität abgesprochen wurde. Dieses Volk kämpft für etwas sehr Reales: um seine Freiheit, um seine Identität, um die eigene Kultur, um das Recht, den eigenen Weg selbst bestimmen zu können.

In diesem Kampf spüren wir, dass es da um etwas sehr Reales geht, das bisher zu wenig wahrgenommen wurde: das Nationsein der vielen Völker im Osten Europas. Die Gleichberechtigung dieser Völker gegenüber anderen Völkern.

Wir leben in Europa. Und gerade wir Deutschen sollten aus unserer Geschichte gelernt haben, dass Europa nur funktionieren kann als eine Gemeinschaft freier und souveräner Länder – nicht als Sammlung eroberter Gebiete oder Einflusszonen. Diese Gemeinschaft kann nur funktionieren, wenn Deutschland lernt, alle Mitglieder dieser Gemeinschaft ernst zu nehmen. Und Deutschland heißt nicht nur: die Regierung und die Politik. Sondern heißt: auch der deutsche Vermieter, der einen bulgarischen Wohnungssuchenden vor sich hat.