Es ist der 1. Dezember 2003. Bundesparteitag der CDU in Leipzig.
Angela Merkel hält eine flammende Rede. Ja, Sie haben richtig gelesen. Eine flammende Rede.
In ihr geht es um Aufbruch, um Liberalisierung, um ein klares Bekenntnis zum Markt und zur Wirtschaft:
“Die Alternativen sind: weiter herumdoktern und sich über die Zeit retten oder den Befreiungsschlag wagen. Ich wähle den zweiten Weg!“
Die Umfragen der CDU sind glänzend, SPD-Kanzler Schröder taumelt von Niederlage zu Niederlage und lässt bereits 2005 wieder den Bundestag wählen. Es folgt ein Wahlkampf, in den CDU als große Favoritin geht.
Es kommt anders als gedacht: die CDU gewinnt zwar, ist aber deutlich schwächer als prognostiziert. Statt der Koalition mit der FDP ist man gezwungen, in eine Große Koalition zu gehen – die erste von vielen.
Wer am Wahlabend in das Gesicht von Angela Merkel blickte, konnte erkennen, dass diese Wahl ein Schlag in die Magengrube war.
Angela Merkel hat an diesem Abend eine wichtige Lektion gelernt: ein zu scharfes inhaltliches Profil rechnet sich nicht. Es ist schwer vermittelbar, es macht angreifbar und kostet Stimmen. Vielleicht ist die gesamte Kanzlerschaft Merkels ohne diese Lektion nicht erklärbar.
Von da an wird Merkel nicht mehr durch eigenen Inhalt auffallen. Keine großen Visionen mehr, sondern das „Fahren auf Sicht“.
Nicht Gestalten – denn Gestaltung setzt eine Vision voraus – , sondern Verwalten.
Regieren als Verwalten
Dieses Verwalten sah selten spannend aus und hörte sich auch nicht spannend an, aber es war offensichtlich das, was die meisten Deutschen gewünscht haben. Bislang über 13 Jahre Kanzlerschaft sind anders gar nicht denkbar.
In diesen 13 Jahren hat sie nicht viele Fehler gemacht, hat sich in zahlreichen Machtkämpfen gegen ihre Rivalen behauptet – indem sie nicht mitkämpfte, sondern die Angriffe immer wieder ins Leere laufen ließ und alles stoisch an sich abprallen ließ. Die Herren Merz, Stoiber, Seehofer und Schröder werden davon ein Liedchen singen können. Ob diese Taktik von Angela Merkel von Anfang an eine bewusste gewählte Taktik war oder einfach ihrem Naturell entspricht und dann immer öfter auch bewusst eingesetzt wurde – das weiß wohl nur sie selbst.
Angela Merkel stand viele Jahre für ein solides Deutschland, das gut verwaltet wird. Mit ihr als Kanzlerin an der Spitze, die persönlich als absolut seriös und integer galt – was in der Politik nicht gerade selbstverständlich ist. Auch aufgrund ihrer Erfahrung von Leipzig und dem anschließenden Wahlkampf hatte Angela Merkel für sich klar gemacht und erfahren, dass Deutschland – mit einer im Schnitt immer älteren Bevölkerung – keine Gestaltung, sondern Verwaltung wollte. Es ging für viele Deutsche nicht um Aufbruch, sondern um Sicherung des Status quo. Und dafür war Angela Merkel genau die Richtige.
Die Flüchtlingskrise
Dennoch hat Angela Merkel natürlich Fehler gemacht. Der große Fehler ihrer Amtszeit, der ihr in wenigen Wochen den Parteivorsitz und letztlich auch das Kanzleramt kosten wird, ist nicht die Flüchtlingskrise im Sommer 2015.
Natürlich hat Angela Merkel in jenem Sommer Entscheidungen getroffen, die rechtsstaatlich und sicherheitspolitisch höchst bedenklich sind.
Natürlich hat Angela Merkel eine Willkommenskultur hochgehalten, die von weiten Teilen der Bevölkerung scharf abgelehnt wird.
Natürlich hat die AfD, die damals nach dem Abflauen der Euro-Krise wieder im Sinkflug war, neue Kraft und neuen Zuspruch erhalten.
Aber: die Frage stellt sich schon, welche Alternativen Angela Merkel angesichts der humanitären Situation der Flüchtlinge auf dem Balkan und an den deutschen Grenzen zu Österreich eigentlich hatte. Man kann darüber streiten, ob man diese Hilfe gleich als Willkommenskultur verkaufen muss, aber eine Alternative zur Soforthilfe bestand aus humanitären Gründen nicht.
Diese Haltung wurde zwar von vielen abgelehnt – aber eben auch von vielen geteilt, was man nicht unterschätzen sollte, auch in der Klientel der christlichen Parteien CDU und der CSU, was Seehofer bis heute nicht verstanden hat.
Erst in der letzten Woche haben Forscher der TU Dresden eine Studie veröffentlicht, nach der die Flüchtlingskrise nicht verantwortlich ist für den Rechtspopulismus in Europa.
Die Gründe für das Erstarken gehen viel tiefer und lagen bereits vor der Flüchtlingskrise vor: es gehe vielmehr um Kränkungen und das Gefühl von Ablehnung, das viele Menschen in den europäischen Ländern erfahren und das durch die Flüchtlingskrise noch einmal mehr befeuert wird, aber in ihr eben nicht seine Ursachen hat.
Die verwaltete Demokratie
Was war der zentrale Fehler von Angela Merkel?
Es war ihre Grundhaltung, die sie schizophrenerweise lange Zeit an der Macht gehalten hat, aber gleichzeitig für ihr politisches Ende verantwortlich ist: die Haltung, nicht zu gestalten, sondern zu verwalten.
Aus dieser Haltung heraus wird ihre eigenartige politische Inhaltslosigkeit verständlich. Wenn ich verwalte, geht es in erster Linie nicht um Inhalte, sondern um Strukturen, die Inhalte verwalten.
Dann komme ich als Regierungschef dahin, wenig auf eigenen Inhalten zu bestehen. Schließlich bin ich dann angreifbar – siehe Leipzig – und außerdem ist die Frage der Inhalte nur so weit interessant, wie sie mich in meiner Verwaltungsarbeit hindern oder fördern. Dann habe ich auch keine Einwände, wenn traditionelle Inhalte der eigenen Partei Inhalten des Koalitionspartners weichen müssen.
Das eine ist Vergangenheit, das andere ist Regierungsgegenwart.
Dann entsteht allerdings der Effekt, der als „asymetrische Demobilisierung“ bekannt geworden ist: Wenn es in der politischen Auseinandersetzung nicht mehr um Inhalte geht, warum dann wählen? Die Wählerschaft – vor allem die des politischen Gegners – wird „demobilisiert“, er bleibt zu Hause, weil er nicht das Gefühl hat, mit seiner Stimme für eine bestimmte inhaltliche Richtung votieren zu können.
Dieser Effekt wurde noch einmal verstärkt durch die Große Koalition. Eine Große Koalition der beiden großen politischen Parteien darf immer nur einen Übergang darstellen. Dauert sie länger, werden ganz automatisch die beiden Koalitionspartner kleiner, während die Ränder der politischen Landschaft gestärkt werden. Der Teil der Wählerschaft, der Veränderung will oder mit irgendetwas unzufrieden ist, wählt den politischen Rand, weil er das Gefühl hat, keine andere Möglichkeit zu haben, Kritik an der Regierungsarbeit anzumelden.
Durch die Tatsache, die nunmehr dritte Große Koalition gebildet zu haben, hat Angela Merkel der demokratischen Struktur schweren Schaden zugefügt.
Demobilisierung der Demokratie
Die Demokratie lebt davon, ein Wettstreit der Ideen zu sein.
Die verschiedenen Parteien werben für bestimmte Inhalte, für eine bestimmte Weltsicht, und die Wähler entscheiden darüber, welche Weltsicht mit welchen Anteilen Verantwortung in der Regierung übernimmt. Wenn Weltsichten, Inhalte und Parteien austauschbar werden – welchen Sinn machen dann Wahlen? Hier wird die Demokratie an einem entscheidenden Nerv getroffen.
Symptomatisch für dieses Verhalten von Angela Merkel und für die sich daraus ergebenden Konsequenzen ist der CDU-Bundesparteitag im Dezember 2016. Der Parteitag beschließt, die doppelte Staatsbürgerschaft abzuschaffen und einen entsprechenden Kompromiss mit der SPD zu kippen.
Angela Merkel, die auf diesem Parteitag erneut als Vorsitzende gewählt wird, tritt unmittelbar nach dem Parteitag vor die Kameras und merkt an, dass sie sich für diesen Beschluss nicht einsetzen wird.
An dieser Begebenheit wird deutlich, dass Angela Merkel einen wichtigen Mechanismus der Demokratie nicht verstanden hat. Sie wurde als Vorsitzende (auch) gewählt, um sich für einen bestimmten Inhalt starkzumachen. Wenn sie dann nach drei Wochen vor die Presse tritt und sagt: „Sorry, es war nichts zu machen!“, wird kein Hahn danach krähen. Aber direkt nach dem Parteitag zu sagen, „Interessiert mich nicht“, bezeugt ihr Desinteresse an inhaltlichen Fragen, die nicht relevant oder sogar störend für ihre Regierungsarbeit sind.
Dieses Desinteresse ist allerdings sehr gefährlich für die demokratische Diskussion und wurde manifestiert in einer ewigen Großen Koalition, deren Existenz faktisch jede inhaltliche Auseinandersetzung unmöglich machte. Das spürten die Wähler, die von der Inhaltslosigkeit entweder ermüdet wurden oder die AfD wählten.
Jamaika
Vor diesem Hintergrund war das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen im letzten Jahr ihr entscheidender Fehler, der Sargnagel ihrer politischen Karriere.
Diese Verhandlungen hätten niemals scheitern dürfen. Auch wenn es die FDP war, die die Verhandlungen verließ: die Hauptverantwortung trug Merkel, die deutlicher als geschehen Grüne und FDP einbinden musste. Merkel ließ es geschehen, weil sie wusste, dass im Notfall die SPD bereit stand, mit der es sich leichter regieren lässt als mit einer Jamaika-Koalition, in der Grüne oder FDP als neue, schwer einzuschätzende Partner immer wieder mit Inhalten nerven.
Diese Haltung macht auch ihre scharfe Ablehnung einer Minderheitsregierung erklärbar: wenn regieren, dann nach vorher in Koalitionsverhandlungen festgelegten Bahnen, nicht in einem ständigen Suchen nach neuen Partnern, was nur lästige Debatten im Parlament bedeuten würde.
Die allerdings die Demokratie gestärkt hätten: das Parlament als Ort, an dem sich die gewählten Volksvertreter um inhaltliche Fragen bemühen.
Fazit
Angela Merkel hat sich große Verdienste in ihren bisherigen 13 Jahren als Bundeskanzlerin erworben. Sie war die erste Frau in diesem Amt, sie hat in einer sehr seriösen und persönlich sehr integren Weise dieses Land regiert. Zugleich hat sie aber auch der demokratisch-politischen Kultur in diesem Land schweren Schaden zugefügt. Man kann natürlich sagen, dass es ihre Hauptaufgabe war, dieses Land zu regieren und für eine funktionsfähige Regierung zu sorgen. Das hat sie getan.
Die Geschichte wird entscheiden, ob die dafür nötigen Opfer an der demokratischen Kultur gerechtfertigt waren.
Zu dieser Welt aus Sachzwangen ist Merkel die perfekte Vorsitzende. Sie hat einen ganz eigenen Typus von Politiker geschaffen, welcher der Auffassung der meisten Deutschen von der globalisierten Welt ziemlich genau entspricht: Man muss sich anstrengen und anpassen, um in der allgemeinen Konkurrenz nicht unterzugehen. Wer da wie Merkel “auf Sicht” navigiert und eher im Sinn einer kurzfristiger Taktik als einer langfristigen Strategie vorgeht, der handelt nicht prinzipienlos, sondern verantwortungsvoll und klug. Ihrem Versprechen, sie wurde mindestens noch vier Jahre weitermachen, glaubt man letztlich nicht, weil man sie fur machtbesessen oder selbstherrlich hielte, sondern fur pflichtbewusst und flei?ig. Kohl, der Ehrenwort-Kanzler, sagte von sich, er sei fromm, aber ein alter Sunder . Merkel offenbart sich in den letzten Jahren immer mehr als Gewissensmensch: Was auch immer sie tue, es musse aus reiflicher Uberlegung geschehen – mit sich im Reinen zu sein sei das Kriterium ihrer Politik, sagte sie wahrend ihres Podiumsgesprachs mit der