Irgendwie scheint alles im Fluss. Digitalisierung, Arbeit 4.0, VUCA – das sind die großen Stichworte großer und umwälzender Veränderungen, die nicht nur das Arbeitsleben, sondern die gesamte Gesellschaft betreffen.

Für denjenigen, der sich für das gesellschaftliche und politische Leben interessiert, gilt das gleiche wie für den, der Verantwortung für ein Unternehmen hat:

Was passiert da eigentlich? Verändert sich alles? Bleibt etwas? Was soll bleiben? Besteht die Welt nur noch aus Chaos oder gibt es auch eine Ordnung? Wie kann ich die erkennen? Und für mich nutzen? Hinter diesen Fragen steht die eine, ganz große Frage: Was ist die Welt und wie funktioniert sie? Ist die Welt etwas, das nur chaotisch scheint, aber letztlich doch eine grundlegende Ordnung hat?

Oder gibt es keine Ordnung und die Welt ist etwas Chaotisches, das sich mit „try and error“ weiterentwickelt?

Also: ist die Welt letztlich Einheit oder Vielheit?


Parmenides und Heraklit

Diese Frage ist so alt wie die Philosophie selbst und heute noch so spannend wie vor über 2.000 Jahren.

Schauen wir auf den Beginn. Ziemlich am Anfang der Philosophie stehen zwei Philosophen, in denen dieser Konflikt von Einheit-Vielheit das erste Mal explizit auftaucht.

 

Da ist zum einen Parmenides (ca. 515-460 v. Chr.).

Grob gesagt (wirklich grob!), ist die Veränderlichkeit der Welt für ihn etwas Oberflächliches und nur Scheinbares. Letztlich ist die Welt eine Einheit und diese Einheit muss ich im Blick haben, wenn ich gültige Aussagen über diese Welt treffen will. Diese Einheit ist nicht direkt erkennbar, aber man kann auf sie schließen – durch das Denken. Ähnlich wie man auch auf Naturgesetze schließen kann: sie sind nicht konkret, aber durch Beobachtungen kann man sie aus der Wirklichkeit heraus abstrahieren. Ähnlich ist es auch mit der grundlegenden Einheit der Welt, die Parmenides erkennt.

 

Wo für Parmenides die Einheit die Grundlage von allem ist, ist es für seinen Widersacher Heraklit (ca. 520-460 v. Chr.) die Vielheit. Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen, sagt Heraklit. Die Wirklichkeit befindet sich in einer ständigen Veränderung. Auch diese Veränderungen sind nicht zufällig, sondern passieren in einem bestimmten Rahmen – schließlich fließt ja auch der Fluss in einem Bett. Aber das, was sich uns präsentiert und über das wir sprechen können, ist die Vielheit, ist eine Welt, die sich in einem ständigen Kampf von Anziehung und Abstossung befindet.

 

Parmenides und Heraklit sind keine absoluten Gegner, Parmenides als Verfechter der Einheit hat auch die Vielheit im Blick, wie auch Heraklit als Denker der Vielheit eine Einheit im Blick hat.

Es ist eine Frage der Perspektive: gehe ich erst einmal von einer Einheit der Welt aus und versuche ich von ihr aus die Vielheit zu erklären oder versuche ich erst einmal die Vielheit zu sehen und dann etwas die Einheit der Welt sagen zu können?

 

Diese Frage wurde nie grundsätzlich beantwortet und die Geschichte der Philosophie ist die Geschichte eines ständigen Hin- und Herpendelns zwischen diesen beiden Extremen.

Mal war die Einheit angesagt (v.a. in Zeiten großer Stabilität und klarer, eindeutiger, gerade auch religiöser Weltbilder), mal die Vielheit (in Zeiten von Umbrüchen).

Die Geschichte der Philosophie hat gezeigt, dass es beide Perspektiven braucht: den Blick auf die Einheit, wenn es um Sicherheit und Festigkeit geht, den Blick auf die Vielheit, wenn es darum geht, vermeintliche Sicherheiten zu entlarven und einen Wandel herbeizuführen (vgl. dazu auch den Blog: Die Welt als “Differenz“).


Was heißt dies für die Beratung von Unternehmen?

In den letzten Jahrzehnten ging es massiv um den Wandel. In den 80er und 90er Jahren schien alles sehr fest und sicher zu sein. Die Aufgabe von Beratung ging dann dahin, die festen Strukturen aufzulösen und wandlungsfähig zu machen. Agilität und Flexibilität waren die großen Stichworte. Neues in den Blick nehmen, das Alte, Starre verlassen. Das Denken von der Vielheit her, Heraklit lässt grüßen.

Nun wäre eigentlich Parmenides wieder dran (auch wenn mir Heraklit persönlich näher steht), denn nun geht es für die Unternehmen darum, in dem Chaos der Vielheit eine Einheit zu finden, eine Identität, auf dessen Boden die anstehenden Veränderungen machbar sind.

Parmenides hat eine grundlegende Einheit erkannt, aus der heraus die Welt beschreibbar sein soll. Diese Einheit wird heute wieder verstärkt benötigt: in der Frage nach dem eigenen Profil und der eigenen Identität in Zeiten von VUCA, in der Frage nach dauerhaften Werten, an denen man sich orientieren kann, in der Frage danach, was der Mensch eigentlich ist und wo er bleibt, wenn die technologische Welle alles wegspült.

Das betrifft die Unternehmen wie auch die Gesellschaft: es gibt die Vielheiten, aber was ist die Einheit? Worauf kann sich eine Gesellschaft im 21. Jahrhundert stützen? Auf welchem gemeinsamen Fundament kann Vielheit gelingen? Das Aufkommen von AfD, Trump und Co. hat ganz wesentlich mit der Suche nach einer neuen gesellschaftlichen Einheit zu tun – die hier aber durch Abgrenzungen vollzogen werden soll und eine alte (völkische) Einheit heraufbeschwört, die nicht herstellbar ist und die es in der gewünschten Form auch nie gegeben hat.

Es geht um eine neue Einheit: in den Unternehmen, in der Gesellschaft. Und das Tolle: wenn diese Einheit gefunden ist, brauchen wir wieder die Perspektive der Vielheit, der Differenzierung, des Infragestellens der neuen Sicherheiten und Fundamente, damit sie nicht zu Tyrannen werden.

Das Pendel schlägt weiter. Parmenides und Heraklit lassen grüßen.