Ich war 15 Jahre lang tätig als katholischer Priester. Als solcher ist mir damals natürlich nicht der besorgniserregende Zustand der Kirche entgangen: immer leerer werdende Kirchen, immer weniger Priester, massenweise Kirchenaustritte, Gemeindeschließungen usw. Diese Krise hat sich in den letzten Jahren noch einmal verschärft durch die mangelhafte Aufarbeitung der vielen Missbrauchsfälle. Aus einer Krise wird immer mehr eine Existenzfrage.
Diese Symptome habe ich damals natürlich wahrgenommen und versucht zu verstehen – auch als Professor für Philosophie: warum gibt es diese Krise und was bedeutet sie für die Kirche?
An einem bestimmten Zeitpunkt habe ich damals entschieden, das Priesteramt aufzugeben. Das zeugt nicht gerade von Optimismus und hat in der Tat wesentlich mit dem zu tun, was ich gesehen, gelesen und gedacht habe. Es sind drei Grundelemente, die ich für die aktuelle und lebensbedrohende Krise der Kirche verantwortlich mache:
1. Anti-Vernunft,
2. Selbstblockade,
3. Moral.
Diese drei Elemente werde ich jeweils in einem Blog näher erläutern, so dass diese dann den Dreiteiler „Die Krise der katholischen Kirche“ bilden. Dabei geht es mir ausdrücklich nicht um eine Abrechnung gegenüber der Kirche. Ich bin vielleicht nicht allzu optimistisch, was ihre Zukunftsaussichten betrifft, aber wenn sie welche hat, dann muss sie in der Lage sein, das abzustellen, was sie in ihre jetzige Situation gebracht hat.
1. Unvernunft
Was ist das große Problem?
Wenn es darum geht, Reformen zu benennen, die die Krise beenden sollen, werden gewöhnlich folgende Dinge genannt: Änderungen im Verständnis des Priesteramts (Zölibat, Frauenpriestertum) sowie Änderungen in der zentralistischen Struktur der Kirche (Papstamt, Bischöfe).
Unabhängig davon, ob diese Forderungen an sich berechtigt sind, muss man feststellen, dass sie auf evangelischer Seite verwirklicht sind – ohne dass es ihr wesentlich besser gehen würde. Die Krise der katholischen Kirche kann daher nicht nur mit Fragen des Priesteramts oder des Papstamtes zu tun haben, sondern muss tiefer sitzen.
Die Krise, unter der gleichermaßen die evangelische wie die katholische Kirche leidet, ist damit weniger eine Krise der Institutionen, sondern vielmehr eine des Glaubens: die Leute glauben nicht mehr an Gott, also gehen sie nicht mehr in die Kirche.
Gerade von konservativer Seite wird gerne auf diesen allgemeinen Glaubensverlust hingewiesen, weil er anscheinend impliziert: wir müssen uns nicht ändern, wir müssen die Leute nur wieder neu missionieren, damit sie wieder glauben.
So einfach ist es nicht.
Warum glauben die Leute denn nicht mehr?
Es hat nichts mit dem Verhalten von Papst oder Bischöfen zu tun. Auch wenn die aktuellen Missbrauchsgeschichten ein harter Tobak sind: moralisch zweifelbare oder verwerfliche Gestalten in hohen kirchlichen Ämtern hat es schon immer gegeben. Die Leute haben trotzdem an Gott geglaubt und die Kirchen waren trotzdem voll.
Also: warum glauben die Leute nicht mehr?
Wann die Krise begann …
Wenn man ein Problem genau erkennen will, ist es oft hilfreich, auf die Zeit zu schauen, in der das Problem noch nicht bestand und sich dann die Entstehung des Problems genau anzuschauen.
Wann war das?
Um auf Nummer Sicher zu gehen, schauen wir weit zurück in eine Zeit, die vor Glauben gerade übersprudelte: das Mittelalter.
Der Mensch des Mittelalters war ein zutiefst gläubiger Mensch. Eine derartige Einheit von Glaube, Kirche und Gesellschaft war einmalig. Der Mensch fühlte sich jeden Tag vom Wirken und von der Magie Gottes umgeben. Dass es Gott nicht gibt, war für ihn undenkbar.
Am Ende des Mittelalters beginnt dies allerdings zu bröckeln.
Über die Ursachen kann man jetzt lange spekulieren (oft wird die Pest genannt), wichtig ist: die Einheit zwischen christlichem Glauben und allgemeiner Weltsicht wird in Frage gestellt. Richtungweisend sind hier Wilhelm von Ockham (1288-1347) und die Nominalisten und ihre Fundamentalkritik an der bisherigen Erkenntnislehre.
Es geht letztlich darum, dass das Wissen über die Welt nicht aus überlieferten Begriffen oder der Theologie kommen kann, sondern aus der Welt selbst bzw. den Mitteln der Logik, mit denen die Welt beurteilt wird.
Quelle aller Erkenntnis ist nicht mehr Gott, sondern die Welt. Die tiefe Einheit von Philosophie und Theologie, die jahrhundertelang gehalten hatte, war zerstört.
Das klingt etwas abstrakt und wenig konkret, war aber ein revolutionärer Einschnitt in die geistige Welt Europas.
Bis dahin galt: die Welt ist Schöpfung Gottes, und von dem, was wir von Gott wissen, schließen wir auf die Welt. Gott war sozusagen das Gesetz, nach dem die Welt funktionierte, Gott war die „Logik“, nach der Welt beschreibbar war: „Im Anfang war der Logos.“
Das hörte nun auf: „Es ist kindisch zu sagen, ich kenne Schlussfolgerungen, weil Gott sie kennt und ich ihm glaube“, so Ockham kritisch. Die Theologie war auf einmal keine Wissenschaft mehr.
Was in der Welt passiert, hat nun irdische Ursachen und die muss man zur Kenntnis nehmen, wenn man die Welt verstehen will. Das war nun Wissenschaft.
Die Kirche versuchte dagegenzuhalten und nahm den Kampf auf, der zu einem Kampf gegen die Wissenschaft wurde. Galileo Galilei lässt grüßen.
Die Aufspaltung der Vernunft
Was war nun das Gravierende an dieser Entwicklung?
Es war nicht die Tatsache, dass die Kirche nicht mehr den Anspruch erhebt, Naturgesetze besser zu kennen als Physiker.
Es ist die Aufspaltung der Vernunft.
Die Kirche begann immer mehr zu unterschieden zwischen der „Vernunft der Welt“ und der „Vernunft des Glaubens“. Beide gehören unterschiedlichen Bereichen an.
Die Vernunft der Welt funktioniert nach der Welt. Wissenschaft. Fortschritt. Mode.
Die Vernunft des Glaubens funktioniert anders. Nach der Bibel. Nach der Kirche. Nach der Beziehung zu Gott.
Das Problem, das dahinter steht: diese Trennung, die im Spätmittelalter begann, führte dazu, dass Gott mit der Welt nichts mehr zu tun hatte. Bis dahin war Gott in der Welt präsent: alles, was in der Welt passierte, hatte mit Gott zu tun. Jede Sache war selbstverständlich in Beziehung zu Gott. Da stellte sich keiner die Frage, wo Gott ist.
Nun wurde Gott immer mehr aus der Welt hinausgenommen, die Beziehung zu Gott lief nicht mehr über die Welt, sondern über eine Binnenwelt, eine „Blase“, die mit der Welt nichts mehr zu tun haben wollte: die Kirche.
Die böse Welt
Diese feindselige Haltung gegenüber „der Welt“ bzw. an der Annahme, dass die wesentliche Wahrheit über die Welt in der Welt selbst zu erarbeiten ist, erreichte wohl im 19. Jahrhundert den Höhepunkt, als die Päpste alle „weltlichen“ Werte wie Demokratie, Fortschritt, Wissenschaftlichkeit usw. offiziell verurteilten.
Diese Haltung ist bis heute präsent. So etwa Josef Ratzinger in einer Predigt als Erzbischof in München (31.12.1979):
„Der christliche Gläubige ist eine einfache Person. Aufgabe der Bischöfe ist es deshalb, den Glauben dieser kleinen Leute vor dem Einfluss von Intellektuellen zu bewahren.“
Kürzlich schrieben die polnischen Bischöfe einen Brief an ihre deutschen Mitbrüder von den „Versuchungen“, die darin bestehen, „die Lehre Jesu ständig mit den aktuellen Entwicklungen in der Psychologie und den Sozialwissenschaften zu konfrontieren. Wenn etwas im Evangelium nicht mit dem aktuellen Wissensstand in diesen Wissenschaften übereinstimmt, versuchen die Jünger, das Evangelium zu „aktualisieren“.“
Was diese Bischöfe völlig verkennen: diese „Aktualisierungen“ sind so alt wie die Kirche selbst.
Und sie sind notwendig. Das gesamte Grundgerüst der kirchlichen Lehre, das Amtsverständnis, die Gotteslehre, die Christologie, die Sakramentenlehre usw.: alles ist zeitgenössische Aktualisierung biblischer Texte und damit indirekte, damals aktuelle Folgerung.
Warum soll diese Aktualisierung aus dem Jahr 325 oder 1563 oder 1870 mehr Wert haben als die von 2022?
Öffentliche Vernunft und nichtöffentliche Unvernunft
Um diesen Vorgang besser zu beleuchten, ist eine bestimmte Interpretation des Vernunftbegriffs hilfreich: die öffentliche Vernunft. Diese Interpretation stammt ursprünglich aus der antiken Stoa und meint, dass sich etwas als vernünftig erweist, dass sich im Laufe der Zeit in einem allgemeinen öffentlichen Dialog herausbildet (sensus comunis). Später griff die Aufklärung diesen Begriff auf.
Was sich in dieser öffentlichen Vernunft herausbildet, das ist gültig für die Gesellschaft, sonst würde es sich nicht herausbilden. Diese Vernunft ist ständigen Entwicklungen und Moden unterworfen, sie muss ständig auf neue Fragen reagieren, sie kennt keine ewiggültigen Wahrheiten, sondern das ewige Ringen um Wahrheiten.
Aus diesem Ringen um die öffentliche Vernunft hat sich die Kirche seit dem Spätmittelalter zurückgezogen, mit Hinweis auf eine eigene, religiöse und gegenweltliche Vernunft. Eine nichtöffentliche Gegen- oder Anti-Vernunft statt eine öffentliche Vernunft. Mit schwerwiegenden Konsequenzen.
Die schwerwiegendste Konsequenz besteht darin, dass im Laufe der Jahrhunderte Gott für die Menschen immer belangloser wurde, immer weniger greifbar, immer weniger konkret.
Das Schwerwiegende ist noch nicht einmal die kirchliche Feindseligkeit gegenüber der allgemeinen und öffentlichen Vernunft. Die Feindseligkeit war mal mehr oder weniger vorhanden. Das Schwerwiegende ist bereits die Trennung.
Wie soll man auch etwas von Gott wahrnehmen, wenn er auf einmal nichts mit der Welt zu tun hat? Mit den Dingen nicht mehr greifbar ist, die uns umgeben?
Was ist zu tun?
Was ist zu tun? Was ergibt sich aus diesen jahrhundertelangen Entwicklungen?
Erst einmal: das Problem liegt tiefer als oft gedacht. Es ist nicht lösbar mit einer Aufhebung des Zölibats oder der Abschaffung des päpstlichen Zentralismus oder einem modern gestalteten Gottesdienst – so hilfreich diese Dinge auch sein mögen. Aber das Problem liegt tiefer.
Die Kirche hat nicht nur das Problem, ihren Inhalt nicht mehr vermitteln zu können, sondern einen Inhalt zu haben, der nicht mehr vermittelbar ist.
Die Kirche muss nicht nur an ihrer Kommunikation arbeiten, sondern an dem, was sie kommunizieren will.
Der Inhalt der Kirche ist entstanden als die Kirche und ihr Gott Teil der öffentlichen Vernunft waren. Der Inhalt der Kirche ist formuliert mit den Begriffen der damaligen Philosophie, des Ausdrucks dieser öffentlichen Vernunft.
Wie soll dieser Inhalt heute gültig sein, wenn die begrifflichen Grundlagen nicht mehr da sind?
- Welchen Sinn macht es, von zwei Naturen in Christus zu sprechen, wenn wir heute ein völlig anderes Verständnis von der „Natur“ einer Sache haben?
- Welchen Sinn macht es, von „drei Personen“ in einem „göttlichen Wesen“ zu sprechen? Was heißt das und wer kann es verstehen?
- Welchen Sinn macht es, beim Abendmahl die Gegenwart Christi als substanzhafte Präsenz zu deuten, wenn die damalige aristotelische Substanzlehre nicht mehr gültig ist?
Keiner dieser zentralen Begriffe der kirchlichen Lehre ist biblisch. Jeder ist eine nachträgliche, zeitgenössische Interpretation. Und dieses zeitgenössische, begriffliche Beschreiben hat die Kirche ab dem Ende des Mittelalters immer mehr eingestellt mit dem Hinweis: wir sind hier, das ist unsere Wahrheit und unsere Vernunft, und da ist die Welt mit ihrer Wahrheit und ihrer Vernunft.
Die Kirche muss an ihren Inhalt. Radikal.
Sie wird erst dann wieder eine Chance haben, für die Menschen gültig über Gott sprechen zu können, wenn sie versucht – wie damals – diesen Gott mit den Mitteln der jeweils gültigen öffentlichen Vernunft und dem jeweils gültigen allgemeinen Welt- und Menschenverständnis zu formulieren.
Sie muss neue Begriffe finden, Gott zu erklären. Dann hat Gott wieder eine Chance. Und seine Kirche auch.
Die Menschen können nur an einen Gott glauben, der auch etwas mit ihrer Welt zu tun hat.
Aus dieser Trennung kirchlicher und weltlicher Vernunft ergeben sich die beiden anderen Elemente, die großen Einfluss auf die Krise haben: Selbstblockade und Moral.
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Lieber Michael, herzlichen Dank für diesen ersten Teil deiner Analyse. Ich finde sie sehr scharfsinnig und sie beleuchtet aus meiner Sicht genau das Problem. Und sie zeigt damit auch den Anfang eines Weges, der jetzt zu gehen ist. Danke!