Im Dezember 2022 gab Boris Becker in bester Sendezeit kurz vor Weihnachten das erste Interview nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Dass dieses dreistündige Interview von Sat1 mit stattlichen 500.000 Euro bezahlt wurde, sei hier nur am Rande erwähnt.
Boris Becker blickt in diesem Interview auf seine Zeit im Gefängnis zurück, schildert den Wahnsinn des Eingesperrtseins. Was habe ihn gerettet? Ein Buch über die stoische Philosophie. Das habe ihn gelehrt, Unausweichliches zu akzeptieren und zur Ruhe zu kommen.
Die Stoa im Trend
Was steckt dahinter, wenn ein Boris Becker sich für die stoische Philosophie interessiert? Was ist das für ein Boom der Stoa? Im Buchhandel sind etwa 3000 Bücher über die Stoa erhältlich, zahlreiche Verbände, Coaching- und Lebensberatungsschulen berufen sich auf die Stoa. Was passiert da gerade? Und warum?
Werfen wir einen kurzen Blick auf die moderne Stoa. Was will sie und was verspricht sie? Hier einige Beispiele:
„Denn die Erkenntnis der Stoiker, dass die meisten Dinge, um die wir uns im Alltag permanent sorgen, für unser Lebensglück nicht entscheidend sind, ist heute so wahr und so aktuell wie damals. Stoiker wissen: Ob das eigene Leben als gelungen angesehen wird, ist eine Frage der richtigen inneren Einstellung.“
„Der Grundgedanke der Philosophenschule Stoa kann dabei helfen, ruhig zu bleiben und innere Stärke zu entwickeln.“
„Bist du fähig, in schwierigen Situationen mit stoischer Ruhe zu reagieren?“
In diesen wenigen Zitaten wird deutlich, worum es der Stoa heute geht: es geht um Weisheit, Lebensführung, Ausdauer und Gelassenheit. Diese Themen scheinen zu greifen. Warum heute mehr als früher? Was macht die Stoa heute so faszinierend?
Die Stoa gestern und heute
Werfen wir einen kurzen Blick in die Geschichte. Die Stoa entstand um 300 v. Chr. Diese Zeit stellte einen Epochenwechsel dar. Der neue „Hellenismus“ war im Wesentlichen eine Folge der Eroberungen von Alexander dem Großen und erfasste den gesamten östlichen Mittelmeerraum und Orient bis nach Indien hin. Diese Zeit, in der die Stoa entstand, hat folgende Kennzeichen:
- Alte, lange existierende Reiche und Staaten waren zusammengebrochen, neue Staatsgebilde entstanden.
- Durch die neue Vermischung von Orient und Okzident kam es zu sehr starken gegenseitigen kulturellen Beeinflussungen.
- Alte Wertesysteme verloren ihre Gültigkeit. Mehr als zuvor stand der Mensch als Individuum im Mittelpunkt.

Der Stoiker auf dem Kaisterthron: Marc-Aurel-Statue auf dem Kapitol in Rom, Quelle: wikimedia.
Diese Faktoren führten in der Philosophie zu einer Neuausrichtung: nun rückte die persönliche Suche Glück in den Vordergrund. Die bisherigen Wertesysteme konnten diese Sehnsucht nicht mehr bedienen. Die Stoa entstand als eine Lehre, wie ein Mensch individuell eine Weisheit entwickeln kann, mit der er sich die nötige Orientierung verschafft, um sich so zu optimieren, dass er angesichts dieser sich schnell verändernden Welt ruhig und glücklich wird.
Genau dieser Mechanismus macht die Stoa heute überaus attraktiv, denn die damaligen Bedingungen ihrer Entstehung gelten auch heute:
Große Veränderungen in der außenpolitischen Lage (Staaten, die vergehen oder neu gegründet werden, Kriege, neue Bündnissituationen usw.), Untergang bisher gültige Wertesysteme (Christentum, Kommunismus …), starke Interaktion zwischen den Kulturen (Globalisierung, Migration …), immer stärkere Individualisierung.
Wie damals ergibt sich aus diesen Faktoren ein Bedürfnis danach, auf individueller Basis zu einem neuen Wertesystem zu kommen: wie werde ich glücklich? Woran soll ich mich orientieren? Wie kann ich angesichts dieser volatilen Welt, in der alles sich immer schneller verändert, zu Orientierung und damit auch zu Ruhe und Gelassenheit finden?
Die alte Stoa trifft also ein menschliches Bedürfnis, das sehr ähnlich gelagert ist wie das zur Zeit ihrer Entstehung. Entsprechend populär ist die Stoa im Coaching und in der Lebensberatung.

Gründer der Stoa: Zenon von Kition, Quelle: wikimedia.
Dieses Bedürfnis gilt noch einmal mehr für Führungskräfte und das Thema „Leadership“, denn für Führungskräfte ist das richtige Verhalten oder die richtige Einstellung angesichts dieser volatilen Verhältnisse nicht nur eine Frage des privaten Lebensglücks, sondern auch des beruflichen Erfolgs.
Gerade bei Führungskräften ist die Stoa sehr attraktiv, wenn sie deutlich macht, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, sich durch die richtige Einstellung entscheidend zu verbessern und insbesondere mit Krisen umzugehen.
Die Stoa schafft es, den überall präsenten Wunsch nach Selbstoptimierung mit positiven Werten zu versehen, wenn sie davon spricht, dass dieses Streben nach Perfektion der Natur des Menschen entspricht, die uns Menschen in die Lage versetzen soll, uns besser in der Welt zu verhalten. Woraus sich die vielfach nutzbare moralische Verpflichtung ergibt, dieses Streben nach Perfektion auch auszuführen.
„Ich fühle mich von diesem Druck zur Selbstoptimierung irgendwie bedrängt. Wohin soll ich denn wachsen und wieso?“ Berechtigte Fragen. Diese Fragen beantwortet die Stoa. Und legitimiert damit in einer sehr attraktiven Weise diese Selbstoptimierung.
In der Coaching-Szene sind an prominenter Stelle die beiden Amerikaner Ryan Holiday und Tim Ferriss zu nennen. Beide sind PR-Profis, die sehr geschickt die stoische Philosophie als eine Art mentales Betriebssystem für „High Stress Environments“ vermarkten.
In ihren Buch-Bestsellern, Youtube-Beiträgen und Seminaren zeichnen sie das Bild des stoischen Weisen als maximal resiliente Person, die sich durch mentale Unerschütterlichkeit auszeichnet und das volle Potential der eigenen Persönlichkeit entfaltet hat.
Stoa: gut oder schlecht?
Der Gebrauch der Stoa hat ohne Zweifel gute Seiten. Insbesondere in der Bewältigung von Krisen und stresshaften Situationen kann sie hilfreiche Tipps geben und hat sie die moderne Managementlehre in gutem Sinne beeinflusst.
So ist etwa das berühmte Motto „Take it, change it – or leave it“ eine Widerspiegelung stoischer Lehre (vgl. Epiktet: „Sich um nichts zu sorgen, das sich unserem Einfluss entzieht, das ist der Weg zum Glück“).
Es stecken aber auch Gefahren in der Benutzung der Stoa. In der Tat betont sie beispielsweise, dass es in der Macht eines jeden Menschen liegt und es eine Frage der inneren Einstellung ist, seine Situation entscheidend zu verbessern.
Daran anknüpfend heißt es dann auf der Homepage des NLP-Coaching-Verbands:
„Alles, was ein Mensch kann, ist erlernbar. Alles ist erreichbar, wenn die Aufgabe in hinreichend kleine Schritte unterteilt wird. Die gewohnheitsmäßige Abfolge von Denk- und Verhaltensvorschriften ist änderbar.“

Quelle: https://www.dvnlp.de/
Hier muss man brutal sagen, dass das einfach nicht stimmt: nicht alles ist lern- und veränderbar. Nicht jedes Leid und jedes Defizit kann man wegdenken. Ein Mensch ist eben nicht, wie die zentrale These von NLP ist, eine Festplatte, die man „neuro-linguistisch programmieren“ kann. Hier werden stoische Thesen aus dem Zusammenhang gerissen und als alter und glaubwürdiger Beleg für die eigene Weltanschauung missbraucht.
Denn das Ziel der stoischen Gelassenheit ist eben nicht die Steigerung der Arbeitskraft bzw. das Hinnehmen unwürdiger Arbeitsverhältnisse.
Die modernen Coaching-Adaptionen der Stoa greifen sich im Regelfall einzelne, gut passende Zitate und Schlagworte der Stoa heraus und machen daraus ein sexy Produkt, das eher die eigenen Einstellungen widerspiegelt als eine authentische Stoa.
Was überhaupt nicht stattfindet, ist eine Zusammenführung dieser Einzelstücke, ein Hinterfragen, in welchem Kontext sie überhaupt stehen: Welches Glück zielt die Stoa eigentlich an? Wie soll der Mensch aussehen und in welcher Welt soll der stoische Mensch leben? Aus welchem Grundverständnis von Mensch und Welt ist die stoische Lehre eigentlich entstanden? Was ist das rationale Fundament dieser Lehre?
An diesen Fragen haben die modernen Adaptionen der Stoa im Normalfall kein Interesse. Und das macht sie manipulativ, weil sie stoische Schlagworte verwenden, um eigene Interessen und ein eigenes Menschenbild zu verkaufen, das mit den Fundamenten der Stoa absolut nichts zu tun hat.

Die „Stoa“, der Säulengang in Athen, in dem die „Stoa“ gegründet wurde. Quelle: wikimedia.
Die antike Stoa ist auch heute eine attraktive Philosophie. Sie kann uns auch heute wichtige Impulse geben, wie wir glücklich werden, wie wir resilient werden und mit Krisen umgehen, wie wir gut führen und entscheiden können. Das macht diese antike Philosophie auch heute sehr attraktiv. Wir dürfen aber nie vergessen, dass es eine antike Philosophie ist mit einem anderen Menschen- und Weltbild als wir es heute haben. Man kann diese Philosophie gut einsetzen, aber sie muss in die heutige Zeit auch „über“-setzt werden, damit sie gut arbeiten kann und nicht manipulativ ist.
Vgl. folgende Blogs: