Wenn es ein Thema gibt, das im Brennpunkt der kirchlichen Krise steht, ist es die Moral.

Zum einen wird die Kirche als eine Institution wahrgenommen, die sehr schnell dabei ist, moralische Vorschriften zu erlassen, die mit der Lebensrealität der meisten Menschen nicht viel zu tun haben oder dieser Lebensrealität klar widersprechen – insbesondere im Bereich der Sexualmoral.

Zum anderen wird immer offensichtlicher, dass die Kirche selbst ihren eigenen moralischen Ansprüchen überhaupt nicht gerecht wird – insbesondere im jahrzehntelangen Wegschauen bei der Missbrauchsthematik, aber auch in vielen anderen Gebieten.


 

Nietzsche

Dahinter steckt eine tiefere Problematik, auf die kein Geringerer als Friedrich Nietzsche Ende des 19. Jahrhunderts hinwies: die Moralisierung des Christentums.

So schreibt er in der „Genealogie der Moral“:

„Dergestalt ging das Christentum als Dogma zu Grunde, an seiner eigenen Moral; dergestalt muss nun auch noch das Christentum als Moral zu Grunde gehen – wir stehen an der Schwelle dieses Ereignisses.“

Friedrich Nietzsche (1844-1900), Quelle: www.wikipedia.org

Worum geht es hierbei? Was ist das Problem der Moral im Christentum? Muss eine Religion nicht moralisch sein?

Doch, eine Religion muss moralisch sein. Aber was ist die Grundfunktion einer Religion? Was ist der Kern einer Religion?

In ihrem Kern geht es einer Religion darum, eine Beziehung herzustellen zwischen Gott und den Menschen. Und aus dieser Beziehung heraus eine Morallehre entwickeln.

Das heißt, zuerst steht die spirituelle Aufgabe: Glaube an Gott, Kontakt zu Gott, Nähe zu Gott, Beziehung zu Gott. Und dann folgt die Aufgabe, eine Morallehre zu entwerfen und auf konkrete Dinge hinzuweisen, die im Leben vorkommen sollen, damit dieses Leben der Beziehung zu Gott auch gerecht wird.

Religion hat zuerst die spirituelle Aufgabe, die Menschen an Gott glauben zu lassen. Und dann die Aufgabe, aus diesem Glauben heraus in einer Morallehre den Menschen Hinweise für ihr Leben mitzugeben.


 

Was passiert, wenn diese nötige spirituelle Grundlage nicht vorhanden ist? Die Moral hat keine Chance. Und die Religion als solche eigentlich auch nicht. Sie wird nur noch als Verkündigerin moralischer Gesetze wahrgenommen und geht kaputt.

Genau das stellte Nietzsche im Christentum fest und hier liegt auch der Kern seiner berühmten „Gott ist tot!“ – Rede. Es ging Nietzsche hier überhaupt nicht um die Frage, ob ein Gott überhaupt existiert. Sondern darum, dass er für die meisten Menschen nicht existiert, „tot“ ist. Dass Gott nicht mehr zum Lebensgefühl der meisten Menschen gehörte und das Christentum dies nicht zur Kenntnis nahm und die Menschen mit immer mehr Regeln überhäufte.

Das Christentum wurde zur bloßen Moral und ging daran kaputt. Das Christentum wurde von einer Gottes- zu einer Moralgemeinschaft. Und Nietzsche sah sehr scharf, wie das Christentum daran kaputtging.

 

Moralisch sein oder Moral sein

Eine Religion – auch die christliche – muss moralisch sein. Aber sie darf nicht zur Moral werden. Was bedeutet es für die Religion, zur Moral zu werden?

Eine Religion, die Moral ist, definiert sich selbst über die Moral. Das heißt, nicht die Nähe oder die Beziehung des Menschen zu Gott definiert, ob der Mensch im Sinne der Religion gut oder schlecht ist, sondern ob er die religiösen Gebote erfüllt.

Auch wenn die Zeiten der „Beichtspiegel“ und anderer Kontrollmittel weitgehend vorbei sind, definiert sich die Kirche mit ihren Gläubigen über die Moral, also darüber, ob die Gläubigen die Gebote der Kirche erfüllen oder nicht.

Man kann dies schon an den Kirchenbesuchszahlen sehen. Es geht hier gar nicht um die Tatsache, dass diese Zahlen seit Jahrzehnten fallen. Es geht um die Tatsache, dass sie erst seit etwas über 100 Jahren erhoben werden. Vorher hat diese Zahl keinen interessiert.

Diese übergroße Bedeutung der Moral wird vielleicht am meisten an der Sexualmoral deutlich, die in den letzten Jahrzehnten fast zur Mitte der christlichen Verkündigung geworden ist. Warum eigentlich? Ist sie für die Kirche wirklich ein Hilfsmittel, die entscheidenden Schritte zu Gott gehen zu können? Wenn ja: ist das gut?

Oder nehmen wir die Kirchensteuer. Jede Religion muss natürlich schauen, finanzielle Einnahmen zu erzielen und darf dafür auch bei ihren Gläubigen um Spenden bitten. Aber die Mitgliedschaft zu einer Religion darüber zu definieren, dass ein Mitglied eine festgelegte Höhe seines Einkommens abtritt? Was verrät das über das Wesen dieser Religion?

 

Der Untergang wegen der eigenen Moral

Nietzsche hat sehr klar diese selbstgefährdende „Moralisierung“ der Kirche gesehen. Das Christentum wird immer weniger zu einer Gruppe von Menschen, die Gott suchen, als vielmehr zu einer Gruppe von Menschen, die Gebote und Vorschriften erfüllen müssen.

Diese kirchliche Haltung ist brandgefährlich, wenn nur noch die Gebote bleiben, aber bei den meisten Menschen das religiöse und spirituelle Element nicht mehr vorhanden ist. Nicht nur brandgefährlich, sondern tödlich und für die Kirche existenzbedrohend wird es, wenn deutlich wird, dass in der Kirche die eigenen moralischen Vorstellungen keine Gültigkeit besitzen, wie dies bei den vielen Missbrauchsfällen und der mangelhaften Aufarbeitung deutlich wird.

Bei einem noch intakten religiösen Fundament konnte die Kirche moralisches Versagen ihrer Leitung vor 500 Jahren noch einigermaßen gut verkraften. Päpste hatten Kinder, Kardinäle haben sich gegenseitig vergiftet, Bischöfe haben Kriege begonnen, um Länder zu erobern. Das war einmal und es wurde toleriert. Diese Nichtbeachtung moralischer Verfehlungen funktioniert nun jedoch nicht mehr und entsprechend rasant bewegt sich die Kirche auf den Abgrund zu.

 

Verlust der eigenen Moral

In den letzten Jahren eröffnen immer neue Gutachten einen erschreckenden Blick in das Innere der Kirche (vgl. den Blog “Moralischer Selbstmord“). Viele Millionen Kinder, aber auch erwachsene Frauen und Männer, wurden über viele Jahrzehnte von Amtsträgern der katholischen Kirche sexuell missbraucht. Immer mehr kommt ans Tageslicht, wie die Täter geschützt wurden, wie sie in andere Bistümer oder andere Länder versetzt wurden, wo sie “weitermachen” konnten. Immer mehr wird auch deutlich, wie die römische Zentrale diese Vertuschungspraxis nicht nur tolerierte, sondern sogar einforderte.

Das Leben unzähliger Menschen ist durch Amtsträger der Kirche ruiniert werden, Suzide sind nicht selten. Welchen moralischen Kompass hat ein Priester, der dies macht? Welchen moralischen Kompass hat ein Bischof, der dies wissentlich zulässt?

Doch die Missbrauchsthematik ist nicht das einzige Symptom der kirchlichen Doppelmoral. Zölibatsverstöße von Priestern werden toleriert, solange sie nicht öffentlich sind. Man schätzt, dass 2/3 der Priester nicht zölibatär leben. Dies gilt auch für die höhere Leitungsebene der Kirche. Auch Bischöfe und Kardinäle leben in hetero- oder homosexuellen Beziehungen. Gerade der Vatikan gilt als Hort homosexueller Netzwerke. Entsprechend heuchlerisch ist es, wenn gerade aus diesen Kreisen die entschiedensten Kämpfer für den Zölibat und gegen die Homosexualität kommen.

Diese Dinge sind einige wenige Belege für einen schwerwiegenden Verlust moralischer Integrität, der von den Menschen auch als solcher wahrgenommen wird. In Kombination mit den hohen moralischen Ansprüchen, die nach außen vermittelt werden, entsteht der berechtigte Eindruck von Doppelmoral und Heuchelei.


Moral als Macht

Es gibt moralische Vergehen von Amtsträgern. Nehmen wir das Beispiel eines Priesters, der sich an Minderjährigen vergangen hat, also den worst case. Der Bischof kann nun das Kirchenrecht walten lassen, der Priester wird kirchlich angeklagt und aus dem Klerikerstand entlassen. Aber das Bischof kann auch Gnade und Barmherzigkeit walten lassen – auch dies gemäß dem Kirchenrecht. Damit ist das kirchliche Recht letztlich kein Recht, sondern eine Machtfrage. Und damit auch die Moral, die ja im Recht verwirklicht werden soll. (Vgl. den Blog “Kirche und Missbrauch“.)

Die Kirche ist sehr schnell dabei, Menschen zu verurteilen. Eine gescheiterte Ehe oder mangelnder Glaube an die Jungfräulichkeit Marias kann den Arbeitsplatz kosten. Auf der anderen Seite werden Schwerverbrecher wie etwa Missbrauchstäter nicht nur toleriert, sondern aktiv vor staatlichen Verfahren geschützt. Beides auf dem Boden des kirchlichen Rechts, das damit keines ist.

Die Moral wird zur Machtfrage, denn der Bischof und die römische Zentrale haben immer die Macht, Gnade oder Strafe walten zu lassen. Man sieht dies im aktuellen Umgang mit den angebotenen Rücktritten deutscher Bischöfe. Auch nach kirchlichem Recht liegen eindeutige Fehler dieser Bischöfe vor, die aber mit einem Federstrich aus Rom als “nicht wesentlich” abgetan werden.

Recht und Moral als Frage der Macht.

Ein großes Einfallstor dieser Machtfrage ist die Tatsache, dass viele Vorschriften anscheinend nicht praktisch durchführbar sind. Wenn die satte Mehrheit der Priester anscheinend nicht in der Lage ist, zölibatär zu leben, dann ist diese Vorschrift anscheinend nicht durchführbar. Das heißt, Verstöße gegen diese Vorschrift sind so sicher wie das “Amen in der Kirche”, um im Bild zu bleiben. Wenn Verstöße gegen Vorschriften sicher sind, dann auch die Situationen, in denen sich die Frage stellt, Strafe oder Gnade walten lassen.

Eine Frage der Macht, die oft gestellt wird. Und die einen Moralverlust belegt und zementiert.

Fazit

Die unheilvolle Entwicklung der Kirche begann im Spätmittelalter mit der Herausbildung einer eigenen Form von Vernunft, die der normalen weltlichen Vernunft scharf entgegengesetzt wurde (vgl. Blog Anti-Vernunft). Diese Situation wurde noch einmal verschärft durch die päpstliche Unfehlbarkeit, die zu einer völligen Selbstblockade der Kirche führte (vgl. Blog Selbstblockade).

Ein anderer Aspekt dieser Entwicklung ist die hier beschriebene Moralisierung: das immer größere Verschwinden der religiösen und spirituellen Fundamente führt zu einer stärkeren Betonung der Moral. Mit anderen Worten: die Menschen glaubten immer weniger an Gott und wurden gleichzeitig mit immer mehr Regeln eingedeckt. Das Ergebnis ist bekannt.

Dass diese Moral dann intern nicht gelebt wurde und wird, erweist sich dann als Brandbeschleuniger.

P.S. Dieser Dreiteiler über die Krise der Kirche wird wegen diverser Nachfragen zu einem Vierteiler. In einem letzten Teil soll es um mögliche Konsequenzen für die Kirche gehen bzw. um mögliche Szenarien für ihre Zukunft.