Es gibt Zeiten, in denen nicht viel passiert, in denen alles so vor sich hinplätschert. Und dann gibt es wieder Augenblicke, in denen wirklich was passiert: in dem sich all das, was bis dahin ruhig dahinfloss, in einem kurzen Moment entlädt. Im Nachhinein betrachtet scheint die ruhige Zeit vorher nur die Vorbereitung, das Atemholen für diesen Moment zu sein, der alles auf den Kopf stellt und nach dem die Welt eine andere ist.

Solche Momente gibt es im Leben, und es gibt sie in der Geschichte der Philosophie. Ein solcher historischer Augenblick war das kleine Essay „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ des Immanuel Kant aus dem Jahre 1784. Ein Jahr zuvor hatte der Berliner Pfarrer Johann Friedrich Zöllner in einer Zeitschrift die spöttische Frage gestellt, was denn die Aufklärung sei, die zwar vielbesprochen sei, aber keiner genau wisse, was sie eigentlich sei. Kant lieferte die Antwort.


 

Immanuel Kant

Wer war Kant? Immanuel Kant (1724-1804) lebte und arbeitete sein Leben lang im ostpreußischen Königsberg. So unspektakulär sein äußerer Lebenswandel ist, so spektakulär ist das innere, geistige Werk, das er in die Welt gesetzt hat.

Mit seinem Hauptwerk „Kritik der reinen Vernunft“, aber auch mit seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ und seiner „Kritik der Urteilskraft“ hat er die Philosophie revolutioniert und markiert damit den Beginn der modernen Philosophie. Sein Hauptanliegen – man sieht es an den Buchtiteln – war die „Kritik“, d. h. die kritische Untersuchung, wie und unter welchen Bedingungen Erkenntnis funktioniert und welche Konsequenzen sich daraus für die Philosophie in all ihren Bereichen ergeben.

Was ist Aufklärung?

Das kleine Essay „Was ist Aufklärung?“ kommt natürlich nicht an den theoretischen Gehalt dieser großen Werke heran und dennoch ist es einer gewissen Art noch bedeutender, weil es in die Öffentlichkeit hinausstrahlte und weil es zur Überschrift einer ganzen Epoche wurde, der „Aufklärung“.

Dieses kleine Büchlein beschreibt dabei weniger einen theoretischen Gehalt als vielmehr eine Grundhaltung, und diese ist es, die wir heute von ihm lernen können.

Was ist nun „Aufklärung“? Kant liefert direkt zu Beginn seine Definition, die jeder Philosophie-Student sich über das Bett hängen sollte:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. […] Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Was steht dem entgegen? Warum sind die meisten Menschen unmündig?

Kant nennt direkt nach diesem Zitat die beiden Ursachen: „Faulheit“ und „Feigheit“. „Es ist so bequem, unmündig zu sein“, sagt Kant, und er führt dies auch weiter aus: die meisten Denkaufgaben werden anderen Menschen übertragen, den Fachleuten, die dafür bezahlt werden. Kant nennt das Buch, das man kaufen kann, den Seelsorger, den Arzt usw. All diese Dinge erleichtern das tägliche Leben, aber sie sorgen eben auch dafür, dass man sich bequem einrichtet und nicht selber denken muss.

Eine weitere Sache kommt hinzu: immer wieder wird darauf hingewiesen, wie gefährlich es sei, eigenständig zu denken. Kant spricht hier von „Vormündern“, die den Menschen wie Hausvieh in den Käfig sperren und dumm machen, indem sie sie davor warnen, den Käfig zu verlassen.

All dies macht es für den Einzelnen sehr schwer, seine Unmündigkeit zu verlassen, die er sogar „liebgewonnen“ hat. Einfacher ist dieser Prozess für eine große Menschenmenge. Denn in einer solchen finden sich immer einige wenige, die selbständig denken können und nach und nach die anderen mitziehen können.


Was wird für die Aufklärung benötigt?

„Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit, nämlich die Freiheit, von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.“

Die Freiheit des gegenseitigen Austauschs ist es, die aus dem Denken eines Einzelnen eine Aufklärung macht und letztlich alle Menschen aus ihrer Unmündigkeit befreit.

Dieser Drang nach Freiheit, so Kant, ist eigentlich in jedem Menschen angelegt, und wenn er nicht von außen daran gehindert wird, kann er sich auch entwickeln. Ist diese Entwicklung einmal in Gang gesetzt, kann sich auch der Staat auf Dauer dieser Entwicklung nicht entziehen und wird, so Kant im Schlusssatz seines Essays, „den Menschen, der nun mehr ist als eine Maschine, seiner Würde gemäß behandeln“.

Was kann und soll Aufklärung heute?

Kant hat verschiedene Faktoren beschrieben, die einen Menschen unmündig machen und von denen er sich befreien muss, wenn er ein selbst denkender und aufgeklärter Mensch sein will. Die Faktoren mögen sich teilweise geändert haben, die Gefahren sind auch heute gegeben.

Zum einen gibt es auch heute die üblichen Verdächtigen: Staaten und Regime, die ihre Bevölkerung unterdrücken und alles tun, um sie am Denken zu hindern.

Aber auch in einer freien Gesellschaft wie in Deutschland ist die Freiheit bedroht, und damit auch das Denken, das die Konsequenz der Freiheit ist. Auch hier kann man viele Faktoren nennen, von übertriebener „political correctness“ bis hin zum Veggie-Day.

Die größte Bedrohung dieser Freiheit zu denken, liegt jedoch heute im Internet (sage ich, wo Sie gerade diese Zeilen im Internet lesen, ich weiß). Was damals Kant damit beschrieb, das Denken an die Fachleute weiterzugeben, ist heute die Tatsache, die Google-Suchmaschine und nicht die eigene Denkmaschine anzuwerfen.

Auf einen anderen Aspekt hat vor einigen Tagen der Finanzinvestor George Soros auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos hingewiesen: durch die immer stärkere Monopolisierung im Bereich der Social Media erhält der Nutzer immer weniger Alternativen, bei denen er sich nach Informationen umschaut. Die großen Monopolisten wie Google, Facebook oder Amazon nutzen dies verstärkt, um gegenüber ihren Nutzern ihre eigenen, kommerziellen Ziele durchzusetzen.


Was ursprünglich entstand für den gegenseitigen Austausch (und damit eine Grundlage für Freiheit darstellte), wird immer mehr zum Mittel der Kommerzialisierung.

Eine weitere, noch größere Gefahr sieht Soros darin, wenn diese großen Monopole nicht nur kommerziellen Interessen folgen, sondern für politische Ziele eingespannt werden.

Soros weist auf die Gefahren hin, die auch in einer freien Gesellschaft dem freien Denken drohen können. Bereits Kant lehrte in seinem Essay, dass die große Gefahr für das Denken nicht äußere Repressalien, sondern die Bequemlichkeit des Einzelnen ist, und dass das freie Denken von dem bedroht wird, dem man jeden Tag vertraut.

Hieran hat sich wohl nichts geändert, und das ist das Wertvollste, das man aus dem Essay von Kant ziehen kann: dass das freie Denken immer bedroht ist. Vom Internet. Vom Staat. Vom Vorgesetzten. Von der Firma. Von den Freunden. Von der eigenen Bequemlichkeit.

Hieraus ergibt sich der Appell, den Kant an uns heute richtet: Fangt an zu denken und achtet auf die Dinge, die euch am Denken hindern wollen!

 

Literaturempfehlungen:

Geier, Manfred: Aufklärung: Das europäische Projekt.

Kühn, Manfred: Kant. Eine Biographie.

Ludwig, Ralf: Kant für Anfänger: Die Kritik der reinen Vernunft.