Vor einem halben Jahr ging es um die Rhetorik des Aristoteles. Nun geht um seine Ethik und um eines der Werke, die die europäische Geistesgeschichte geprägt haben: die Nikomachische Ethik des Aristoteles (384-322 v. Chr.). Das genaue Abfassungsdatum dieses Werkes ist unbekannt. Sowohl der Vater als auch der Sohn des Aristoteles hießen „Nikomachos“. Vermutlich einem von ihnen beiden ist dieses Werk gewidmet.

Dieses Werk trägt den Namen „Ethik“ und Aristoteles begründet mit diesem Werk eine neue philosophische Disziplin.

Worum geht es in der Ethik? Es geht um das menschliche Handeln: warum handeln wir wie wir handeln, und wie können wir gut handeln?


Die Tugenden

Handeln, so Aristoteles, ist immer zielgerichtet. Letztlich strebt unser ganzes Handeln nach einem großen Ziel: Glück. Letztlich sind alle anderen Ziele auf dieses eine große Ziel hingeordnet: wir wollen glücklich sein und dafür handeln wir.

Aristoteles (384-322 v. Chr.) (Quelle: www.wikipedia.org)

Das Handeln ist geprägt von „Tugenden“. Dieser Begriff gilt mittlerweile als verstaubt und altbacken. Wohl auch, weil er in der Vergangenheit missbraucht wurde. „Tugendhaft“ zu leben hieß lange Zeit, unter der Knute von Moralvorstellungen zu leben, die alles andere als lebenswert erschienen.

Mit „Tugenden“ meint Aristoteles aber weniger von außen kommende Moralvorstellungen, an denen man sich orientieren soll, als vielmehr etwas Inneres: er spricht von Tugenden als „Seelengütern“. Die Tugend ist also das im meinem Inneren, wonach ich mein Handeln ausrichte bzw. was mein Handeln beschreibbar macht. Diese Tugenden sind also erst einmal nicht gut oder schlecht, sondern das, wie ein Mensch handelt und was er kann: wenn er schnell laufen kann, hat er die Tugend des Läufers.

Was ist nun das Wichtige an diesen Tugenden?

Die Mitte zu treffen.

Eine Tugend, eine Verhaltensweise kann umschlagen, entweder in ein „Zuviel“ oder in ein „Zuwenig“. Aristoteles erklärt das anhand der „Tapferkeit“.

Ein Zuviel an Tapferkeit ist Tollkühnheit: man kann das Risiko nicht mehr einschätzen und rennt in sein Verderben.

Ein Zuwenig an Tapferkeit ist die Feigheit: man verliert aus Angst die Fähigkeit, überhaupt zu handeln.

Ähnlich verhält es sich mit allen Tugenden: sie können kippen! Aus Sanftmut kann Jähzorn entstehen, aber auch Schwäche, aus Gerechtigkeit kann Pedanterie entstehen, aber auch Regellosigkeit, Großmut kann in Eitelkeit umschlagen, aber auch in Kleinmütigkeit usw.

Quelle: www.flickr.com

 

Die Affekte

Dreh- und Angelpunkt dieser Tugenden sind die „Affekte“, also die Gefühle: das Gefühl von Furcht / Mut entscheidet darüber, ob aus der Tapferkeit Tollkühnheit oder Feigheit wird, das Ehrgefühl darüber, ob Großmut in Eitelkeit umschlägt usw.

Es geht also Aristoteles weniger darum, Gefühle und Emotionen zu verbannen, sondern darum, sie in einem richtigen Maß einzusetzen, um die „Mitte“ der Tugenden zu treffen. Diese Mitte ist es, in der es gelingt, in einer guten und glücklichen Weise zu leben.


Die Klugheit

Was braucht es, um die Mitte zu treffen? Klugheit und Weisheit, die Fähigkeit des Auswählens:

„Die Tugend ist eine Weise des Wählens, die die nach uns bemessene Mitte hält und durch die Vernunft bestimmt wird und zwar so, wie ein kluger Mann ihn zu bestimmen pflegt.“

Quelle: www.livescience.com

Es geht um die Fähigkeit, abzuwägen zwischen den vielen Möglichkeiten, die sich uns anbieten. Kluges und vernünftiges Handeln zeichnet sich dadurch aus, die richtigen Möglichkeiten zu erkennen um, so Aristoteles, „die richtige Mitte“ zu treffen: zu wissen, wo mein Handeln in ein Extrem kippt, das für mich selbst und andere unschön wird und mich nicht glücklich machen kann. Abwägen und auswählen.

 

Fazit

Die Nikomachische Ethik ist ein sehr umfangreiches Werk, über das schon viele dicke Bücher geschrieben wurden. Die für den modernen Menschen vielleicht wichtigsten Passagen sind jedoch die über die Tugenden.

Als moderne Menschen tun wir uns schwer mit dem Begriff „Tugend“, weil wir nicht etwas von außen aufgedrückt bekommen wollen. Wir wollen selbst unser Leben gestalten und nicht von außen gesagt bekommen, was gut oder schlecht ist.

Aristoteles enthält sich jeder moralischen Wertung. Er wirbt für ein gesundes Augenmaß. Für die Fähigkeit zu erkennen, wann das eigene Leben und das eigene Handeln in ein Extrem abgleitet, das nicht glücklich machen kann.

Wann wird aus Arbeit ein Hamsterrad? Oder Faulheit?

Wann wird aus Ehrgeiz Überdrehtheit? Oder Lethargie?

Wann wird aus Verantwortung Diktatur über den anderen? Oder Teilnahmslosigkeit?

Wann wird aus Wettkampf Krieg? Oder Antriebslosigkeit?

Es sind immer schmale Grade, die zwischen „gut“ und „schlecht“ oder „glücklich“ oder „unglücklich“ oder „krank“ oder „gesund“ entscheiden. Aristoteles hilft, diese schmalen Grade wahrzunehmen und sein Handeln daraufhin zu befragen, ob es auf Dauer überhaupt tragfähig ist. Die eigene Mitte zu finden in einer Zeit, die immer mehr von Extremen geprägt ist, muss kein Fehler sein.

 

Literaturempfehlungen:

Aristoteles: Nikomachische Ethik.

Hauskeller, Michael: Geschichte der Ethik: Antike.

Höffe, Otfried: Aristoteles, Nikomachische Ethik (Klassiker Verstehen, Bd. 2).